Ausgabe 10

In dieser Ausgabe: Johannes Brahms in Belo Horizonte (Brasilien), Noten von J.S. Bach, das Album der Woche mit Beethoven, Chopin & Schubert, Know-How übers Arrangieren und Richard Wagner für Gitarre und Mezzosopran

Hey!

Als wir dieses Newsletter-Projekt begannen, schien der selbstauferlegte regelmäßige Erscheinungs-Turnus eine echte Herausforderung. Aber siehe da, heute sind wir schon bei Ausgabe 10 angekommen und das mit einer Leichtigkeit, die nur bei Dingen eintritt, die echte Freude machen. Wir können heute also ein erstes kleines Jubiläum feiern. 

Nun, zunächst einmal ganz kräftig Danke sagen an euch, die ihr diesen Gitarren-Rundbrief lest. Danke an alle Komponist*innen, die uns über die vergangenen Monate Noten zur Verfügung gestellt haben.

1000 weltweite Leser*innen sind ein weiterer Grund zum Feiern.

Wie ihr sicherlich wisst, gibt es diesen Newsletter in deutscher und englischer Sprache. Mehr Reichweite für den Newsletter = Mehr Reichweite für die vorgestellten Künstler*innen. Also fasst euch ein Herz und teilt den Sign-Up-Link mit euren Freund*innen.

Deutschsprachige Version:
https://newclassicalguitar.de/
Englischsprachige Version:
https://newclassicalguitar.de/#en

Mit der heutigen Ausgabe möchten wir uns aber auch bei einem Menschen bedanken, der in Hinsicht auf unsere künstlerische Entwicklung für uns sehr prägend war. Ihm haben wir diese heutige Ausgabe gewidmet.

Daniel Göritz hat, was das Arrangieren für Gitarre angeht, das dürfen wir hoffentlich verraten, eine (teils auch unveröffentlichte) Bibliothek, die weltweit sicher ihresgleichen sucht. Von Dowland über Bach bis hin zu Brahms, Schubert und selbst Wagner oder Helmut Oering. Kaum etwas scheint unmöglich und alles geschieht mit höchstmöglicher Liebe zum Detail und musikalischer Präzision. Kurz: Daniel ist einfach ein Arrangeur der Extraklasse. Insofern ist das heutige Interview an Mehrwert sehr reich. Darum herum haben wir in unsere bewährten Kategorien Arrangements gesteckt, die beispielhaft zeigen sollen, was alles möglich ist.

In dieser Ausgabe geht es ausschließlich ums Arrangieren – und da wir selbst gerade an eigenen Übertragungen von (Klavier-)Musik von Claude Debussy, Johann Sebastian Bach und Felix Mendelssohn-Bartholdy auf Gitarre arbeiten, ist sie gewissermaßen ein Geschenk an uns selbst zum Jubiläum. 

Daniel Göritz nimmt uns alle mit auf eine große Spielwiese.

Versuchen wir einfach mal ein paar Türen ’nen Spalt weiter aufzumachen. Lasst uns sehen, was möglich ist und gemeinsam das Übersetzen als kreativen Akt feiern.

Los geht's!

Cheers,
Stefan & Willi

YOUTUBE-FUND DER AUSGABE
Daniel Göritz spielt Johannes Brahms - Sarabande

Johannes Brahms in Belo Horizonte (Brasilien). Auf Gitarre übertragen. Unser Video der Woche. Die Sarabande funktioniert wunderbar auf den sechs Saiten und in Kombination mit der lichtdurchfluteten, schlichten Video-Location möchte man meinen, es gäbe nichts Natürlicheres, als dieses Klavierstück in der Gitarrenversion zu genießen. Die Interpretation ist luftig und intensiv zugleich, sie atmet und der Klang wird regelrecht in den Raum projiziert und in die umliegende Natur gesendet. Wir fordern mehr Brahms für Gitarre. Wir wünschen uns mehr Klangeindrücke wie diesen. 

Gleichzeitig ist das Video ein gutes Beispiel für das, was Daniel im Interview kategorisiert als „Übertragen eines auskomponierten Stückes, bei dem alle Details schon feststehen, auf unser Instrument.“ Hierbei sei der Anspruch, dem Original möglichst treu zu bleiben und trotzdem eine Übersetzung zu schaffen, die auf dem neuen Instrument, der Gitarre, so idiomatisch wie möglich funktionieren.

Check. Wir wussten gar nicht, dass Brahms für Gitarre geschrieben hat :)

ALBUM DER AUSGABE
New Transcriptions for 2 Guitars by Daniel Wolff & Daniel Göritz

Klavierstücke auf zwei Gitarren zu transkribieren, liegt irgendwie nahe. Näher zumindest als für Gitarre solo, kann man auf zwei Instrumenten doch theoretisch mehr vom originalen Notentext übernehmen. Was bei Weitem nicht heißt, dass so ein Arrangement ein Selbstläufer ist. Wir finden, dass Daniel Wolff und Daniel Göritz mit Beethoven, Chopin und Schubert eine faszinierende Auswahl für ihr Duo-Album getroffen haben. Noch weitaus faszinierender ist die Qualität der Transkriptionen und der Einspielung gleichermaßen. Der detailreiche, dynamische und farbenfrohe Dialog zwischen den beiden Instrumenten zieht uns so stark in ihren Bann. Da verschmelzen nicht nur die beiden Akteure zu einer Einheit, sondern wir als Zuhörer gleich mit. 

Übrigens: Selbst wenn der Gefeaturte sicher gerne ein aktuelles Album in dieser Kategorie bevorzugt hätte, für uns ist diese LP ein Klassiker, der viel zu weit unter dem Radar fliegt und unserer Meinung nach ein echter Gradmesser für alle kommenden Einspielungen von Duo-Arrangements ist.

KNOW-HOW 
mit Daniel Göritz - Über das Arrangieren notierter Musik

Daniel Göritz ist Professor an der Hochschule Musik Hanns Eisler Berlin. Er ist als Interpret, Bearbeiter, Herausgeber und Komponist aktiv und beschäftigt sich mit zeitgenössischer Musik bei erweitertem Instrumentarium (verschiedene Gitarren und E-Gitarren, E-Bass und Elektronik). Darüber hinaus ist die freie Improvisation ein weiterer wichtiger Schwerpunkt seiner Arbeit.

Als Gitarrist spielte er mit vielen Orchestern wie dem SWR Sinfonieorchester, dem Deutschen Symphonie-Orchester, dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, den Berliner Philharmonikern, der New World Symphony und der BBC Philharmonic.

Künstlerisch lässt er sich kaum in Schubladen sortieren, was für sich genommen sehr spannend ist. Dass er sich den Schlüssel zur Welt der Musik als junger Musiker selbst geschmiedet hat, war aber auch für uns neu und erklärt möglicherweise seine unerschöpfliche Begeisterung für Neues und das konstante Infragestellen von Konstanten. 

Scheuklappen weg, Augen auf und Go…

Wie bist du zum Arrangieren gekommen und was war dein erstes Arrangement?

Diese Frage scheint auf den ersten Blick einfach zu beantworten zu sein, ist es dann aber gar nicht für mich… vielleicht schon, weil es bei mir schon so lange her ist ;)

Ich habe aber mit Sicherheit zuerst angefangen, Musik zu notieren, musikalische Ideen festzuhalten und dann auch weiterzuentwickeln – also zu komponieren! Ich komme darauf noch zurück… Jedenfalls hängt beides für mich auch sehr eng zusammen. Wenn ich mich recht erinnere, entstanden die ersten Arrangements, weil ich etwas spielen wollte, aber die Noten nicht hatte. Ab Mitte der 70er Jahre war ich Teenager, und die ersten Versuche im Komponieren und später dann im Arrangieren dürften so mit ca. vierzehn / fünfzehn bei mir gewesen sein. Das bedeutet ca. 1979 – lange vor dem Internet.

Bevor ich zum ersten Stück komme, das ich arrangieren wollte, sollte ich das erste Stück erwähnen, das ich spielen wollte – ich hatte schon einige Zeit die Gitarre in der Hand, konnte aber noch keine Noten lesen. Ich wollte aber unbedingt die bekannte Bourrée aus Bachs e-moll Suite (BWV 996) spielen können. Ich hatte sie im Ohr, zum Beispiel durch Jethro Tulls Version von 1969, fand aber viel faszinierender die Version für Solo-Konzertgitarre – das klang doch wie ein Duett auf einem Instrument, irre – meine Begierde war geweckt! Ich besorgte mir die Noten über Umwege in einer Bibliothek und dann hieß es: Takt für Takt mit der LP und der Gitarre durch das Stück (die LP dürfte auf diesen Rillen anschließend ziemlich ruiniert gewesen sein).

Mit dem Klang im Ohr suchen, wohin die Finger auf der Gitarre müssen. Und da ich die Noten ja noch nicht lesen konnte, musste ich das rückwärts lernen, indem ich verglich, wie der Klang (den ich kannte) aufgeschrieben war. Ziemlich umständlicher Weg wahrscheinlich, aber bald hatte ich mir so das Geheimnis, welches diese Bourrée für mich war, aufgeschlossen. Und war fasziniert davon, nun auch den Schlüssel zu allen diesen anderen Kompositionen zu haben. Schließlich musste man sie jetzt ja “nur” noch spielen. Es zeigt, dass alles, was wir aus innerer Leidenschaft motiviert tun, uns tief und “ewig” bleiben wird. Das war etwa mit dreizehn.

Es war mir wichtig, das vorher zu erzählen, weil nun das erste Stück, das ich arrangieren wollte (es könnte das C-Dur Präludium aus Bachs Wohltemperiertem Klavier Teil I gewesen sein), mir gar nicht mehr so weit entfernt schien. Die Erfahrung, es schon versucht und einfach getan zu haben – das war das Entscheidende. Also, wer dafür brennt, sich allermindestens dafür interessiert, muss vor allem ANFANGEN, es selbst zu versuchen, es TUN. Abertausende Details von Wissen und Erfahrung gibt es auf dem Wege dann immer noch zu sammeln!


Welches eigene Arrangement bereitete dir am meisten Kopfzerbrechen und – gibt es irgendwann eine Grenze, was überhaupt zu arrangieren möglich ist?

Zuerst gibt es zwei große, ziemlich unterschiedliche Bereiche des Arrangierens: Zum einen das Übertragen eines auskomponierten Stückes, bei dem alle Details schon feststehen, auf unser Instrument. Hierbei möchte man dem Original möglichst treu bleiben und trotzdem eine Übersetzung schaffen, die auf dem neuen Instrument, der Gitarre, so idiomatisch wie möglich funktioniert.

Zum anderen gibt es die Art von Arrangement, bei der viel weniger feststeht und wo viel mehr kompositorische Kreativität gefordert ist: zum Beispiel Barockmusik im Basso-Continuo-Stil, bei der nur die Melodiestimme und die Bassstimme ausgeschrieben sind. Alles andere muss anhand der Bezifferung (oft ist nicht mal diese vorhanden) oder aus dem Verlauf und den Beziehungen dieser beiden Stimmen zueinander abgeleitet und dazu erfunden (also auskomponiert) werden. Mir persönlich macht es große Freude und bedeutet mir künstlerische Herausforderung (und hinterher Genugtuung), wenn ich bei solchen Stücken unabhängige Stimmen dazu komponiere und so mit dem Herz der Komposition in Kontakt komme. Das geht weit über das bloße Aussetzen von Akkorden hinaus und erfordert eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem musikalischen Material.

Leider muss ich immer wieder feststellen, dass die Bibliotheken voll mit all diesen in die Tage gekommenen Ausgaben sind – oft von langweilig mittelmäßiger Art. Es erscheinen dieser Tage Notenalben mit einigen meiner Bearbeitungen für Gesang und Gitarre beim Verlag Neue Musik Berlin: ein Schubert-, ein Brahms- und ein Purcell-Album. Letzteres ist von der beschriebenen zweiten Art des Arrangierens und versucht das mit sehr viel persönlichem Anteil: dazu komponierte Einleitungen, polyphon gedachte Neben- und Mittelstimmen. Bei den Schubert- und Brahms-Alben geht es dann mehr darum, den Klavierpart möglichst klangvoll und idiomatisch auf die Gitarre zu übersetzen.

Was die Frage nach der Grenze angeht – da geht es dann wohl um die Grenzen des Instruments und/oder die Grenzen der eigenen Technik, des Machbaren. So ist eine bahnbrechende Bearbeitung wie Yamashitas Bilder einer Ausstellung wohl nur bedingt für andere spielbar – zu sehr benötigt diese Herangehensweise auch eine individuelle Technik.

Am meisten Kopfzerbrechen hat mir wohl meine Bearbeitung von Wagners Vorspiel zu Tristan und Isolde & Liebestod bereitet. Es hört sich vielleicht auch etwas verrückt an, das überhaupt zu versuchen, aber was soll man machen… ich wollte es unbedingt spielen – und mit der nötigen Leidenschaft als Antrieb, scheint es irgendwie geklappt zu haben. Aber es gab schon auch durchaus Momente des Zweifelns, ob das machbar ist. Es ist auch ein langer Prozess, der vielleicht auch (ohne Deadline) nie zu 100 % beendet ist. Immer wieder, wenn ich darauf zurückkomme, ergeben sich noch hier und da kleine Änderungen, Polituren etc. Wahrscheinlich muss es erst aufgenommen, festgehalten sein, bevor ich sagen würde: Jetzt ist es fertig. Andererseits ist es ja genau dieser Prozess, dieses Leben IN solch großartiger Musik, das (zumindest mich) glücklich macht.

Wenn man von Grenzen spricht – du hast Sexton A. von Helmut Oering für Solo-Gitarre arrangiert! Wie hast du das umgesetzt und hast du mit ihm darüber gesprochen, respektive wie war seine Reaktion auf dein Arrangement?

Das Stück ist original für Viola Solo. Am Ende gibt es z. B. eine ausgedehnte Passage, bei der gleichzeitig gespielt (gestrichen) und gesungen/gesummt wird. Mit zwei Ebenen von ausgehaltenen Tönen eine sehr interessante Wirkung, aber leider nicht möglich auf der Gitarre. Helmut O. als offener und pragmatischer Mensch suchte sich dann aus meinen Vorschlägen die besten Veränderungen heraus und wir bauten das Stück neu zusammen. 

Es unterscheidet sich von der von Tabea Zimmermann uraufgeführten Version zum Teil erheblich. Damit hatte aber H. O. kein Problem und findet es im Gegenteil spannend, wenn sich ein Stück noch in andere Richtungen entwickeln kann. Mit Komponist*innen, die an jedem einzelnen Detail hängen, würde eine solch flexible und ergebnisorientierte Arbeitsweise natürlich nicht funktionieren.

Wenn jemand vor einem Klaviersatz sitzt und diesen in eine Gitarrenstimme übersetzen möchte – welche Vorgehensweise (grob) würdest du empfehlen? Genauer: Nach welchen Kriterien triffst du Entscheidungen bezüglich des meist zu engen Tonumfangs der Gitarre?

Mit dieser Frage könnte man natürlich eine ganze Reihe an Vorträgen und Workshops füllen, auf Hunderten Seiten versuchen, Dinge zu katalogisieren – kurzum: ein weites Feld.

Der erste Schritt ist immer die Frage: Wie sehr liebe ich ein Stück, und wie groß ist der Drang, es selbst spielen zu wollen? Dann spiele ich in den Noten herum vom Blatt – quasi ein ganz grobes Adhoc-Arrangement – und versuche ein Gefühl dafür zu bekommen, ob das auf der Gitarre funktionieren könnte. Und wenn dann noch ein gutes Gefühl da ist und die meisten Stellen lösbar bzw. machbar erscheinen, geht es los.

Vielleicht hier an dieser Stelle vor allem dies: Ja, es wird vor allem um Reduktion gehen, und das möglichst klug und effektiv. Ähnlich wie ein Klavierauszug einer Oper versucht, das ganze Orchester abzubilden, liegt die geforderte Kreativität hier also weniger im eigenkompositorischen Bereich, sondern eher darin, wie man listig und gekonnt weglässt. Dazu muss man zuerst möglichst gut die Essenz der Komposition erkennen und den Notentext analysieren. Es mag ein ähnlicher Prozess wie das Übersetzen von Lyrik in eine andere Sprache sein. Die wortgetreue Übersetzung allein wird nicht ausreichen, sondern holprig wirken – es gilt, den Klang zu treffen.

Ein paar sehr grobe Faustregeln des Weglassens (Ausnahmen bestätigen die Regel!) könnten hilfreich sein:

Verlauf und Kontur der Außenstimmen möglichst beibehalten. Wenn Registerbrüche nötig sind, dann zuerst im Bass versuchen (es sei denn, der Bass ist die Hauptstimme). Sind Bass- und Oberstimme intakt, kann man dazwischen schon freier sein. Vorsicht bei Umkehrungen, der Basston macht den Unterschied!

Tonverdopplungen zuerst weglassen. Bei Wahlmöglichkeit diejenige Verdopplung beibehalten, die sich am besten aus der Stimmführung herleitet.

Müssen tonale Akkorde reduziert oder re-voiced werden, kann oft die Quinte zuerst wegfallen (zumindest im Großteil der Musik bis zur Spätromantik). Grundton und Terz (sowie wichtige Alterierungen) dagegen sind eigentlich nicht “verhandelbar”!

Finden und Bevorzugung von Voicings auf der Gitarre, welche schon Leersaiten enthalten oder (bei Positionswechseln) zu im Ziel enthaltenen hinführen (oder von ihnen fort).

Das Finden der am besten geeigneten Tonart kann auch ein wichtiger Aspekt werden – zumindest bei Soloarrangements, bei denen wir keine Rücksicht auf den Tonumfang z. B. einer Singstimme nehmen müssen. Bei Kompositionen für Klavier plus Singstimme oder einem anderen Instrument haben wir dagegen oft kaum Flexibilität oder Wahlmöglichkeit. Gerade bei Gesang kann ein Halbton schon eine Welt bedeuten, und Sänger*innen werden manchmal wenig Mitleid mit uns haben, wenn die Tessitur (quasi die für diese Stimme individuell ideale Lage und Umfang) z. B. in einem Stück in As-Dur perfekt ist – aber wir Gitarristen (verständlicherweise) anbieten, ob wir es nicht lieber z. B. in G-Dur machen könnten. Für solche Fälle habe ich übrigens einen gut bewährten Geheimtipp weiterzugeben: eine zweite Gitarre zur Hand zu haben, die einen Halbton höher gestimmt ist. Damit können wir besagtes As-Dur klingend anbieten, aber G-Dur spielen. Theoretisch auch eine weitere, einen Halbton tiefer gestimmt. Für mich hat sich das allerdings nicht bewährt – da wirkte das Instrument trotz Saiten mit höchster Spannung und sogar Saiten in Spezialanfertigung (mit Optimierung es/b/ges/des/As/Es) matter und träger.

Was wäre dir noch wichtig, in diesem Zusammenhang zu sagen?

Im Unterricht spreche ich all diese Dinge auch oft an, mache auf Entscheidungen der Herausgeber*innen aufmerksam, ermutige dazu, Dinge zu hinterfragen, Quellen zu vergleichen… Oft habe ich die Situation, dass jemand ein Arrangement anbringt und es einfach spielt, ohne diesen eigenen Gedankenprozess. Wenn es ein gutes Arrangement ist, eines*einer guten Arrangeur*in – Glück gehabt. Wenn ich mir anschaue, was mir bei (veröffentlichten!) Arrangements schon alles Haarsträubendes begegnet ist, ist mein Eindruck, dass mittelmäßige bis schlechte Qualität leider viel zu verbreitet ist und oft eben nicht hinterfragt wird. Daher versuche ich immer “Hilfe zur Selbsthilfe” zu geben, damit solch eine Mittelmäßigkeit sich nicht ewig fortsetzt.

Vielleicht ein konkretes Beispiel dazu: Oft spielen wir auf der Gitarre Arrangements, bei denen eine existierende einstimmige Textur durch hinzugefügte Bässe, vielleicht sogar auch erweiterte harmonische Ausdeutungen und Nebenstimmen, ergänzt wird. Viele Bachsätze sind so – Cellosuiten oder schnelle Sätze der Solo-Violin-Sonaten und Partiten. Auf den ersten Blick eine scheinbar vergleichsweise einfache Aufgabe. Bei genauerem Hinsehen (und Hinhören) jedoch ist dem nicht so.

Hier ein Beispiel aus der Partita für Solo-Flöte BWV1013 – bearbeitet für Gitarre Solo. Es ist hier interessant für uns, weil es insgesamt eigentlich kein schlechtes Arrangement ist. Allerdings hat der Bearbeiter (ich möchte hier keinen Namen nennen) einige “nicht optimale” Entscheidungen getroffen. Gar nicht leicht zu erkennen – weil sie, isoliert betrachtet, nicht sofort und eindeutig falsch klingen. Dadurch komme ich zu diesem elementar wichtigen Aspekt: Beim Arrangieren dieser Art von Musik immer den Kontext sehen und verstehen. Immer zurückblicken, woher kommt diese Stelle, wohin geht sie.

Es geht bei diesem Beispiel ausschließlich um die dritte Zählzeit von Takt 6, für das Verständnis des Kontextes zeige ich den Takt davor und danach.

Durch das Cis im Bass auf der Drei in Takt 6 wird ein A7(9-)-Akkord suggeriert, der sofort eine dominantische Erwartung nach d-moll auslöst, die anschließend auf der Vier sofort wieder zurückgenommen wird, da hier wie erwartet C7 klingt als Dominante zum F-Dur-Ziel in Takt 7. Bis zur Drei wirkt noch alles gut und spannend. Dann ab der Vier die plötzliche Zurücknahme der Erwartung, welche irgendwie unmotiviert und enttäuschend wirkt. Man stolpert vielleicht ein bisschen darüber, ist aber noch nicht überzeugt, etwas daran ändern zu müssen. Erst wenn man genauer hinsieht und hinhört, wird deutlich: Hätte man den Kontext betrachtet, wäre es besser gewesen, die dritte und vierte Zählzeit als einen Akkord zu betrachten, denn wir bewegen uns in einem ruhigen harmonischen Rhythmus in Halben: von E7 über E7(9-) nach a-moll, dann C7 nach F.

Hier die Stelle aus meiner Bearbeitung:

Ein zweites Beispiel gehört in eine ganz andere interessante Kategorie – die Verschlimmbesserung: eine, oft auch unbenannte, Bearbeitung eines Stückes, das eigentlich gar keiner Bearbeitung bedarf.

Dieses Beispiel stammt aus der Serenade für 2 Gitarren op. 96 Nr. 1 von Fernando Carulli, also einem Originalwerk. Es kursieren viele Noten, die kostenlos im Internet heruntergeladen werden können, neu und modern gesetzt. So auch hier. Jedoch wurde nirgendwo erwähnt, dass das Stück eine Bearbeitung durchlaufen hat.

Aus diesem Takt im Original (Git. 1+2 in einem System notiert):

wurde in dieser (ungenannt bleibenden) “Neuausgabe”:

Man mag Carulli vielleicht nicht für einen ganz großen Komponisten halten, aber sein Handwerk war solide, und eine solche Verschlimmbesserung hat auch er bei weitem nicht verdient. Es ist, als ob diesem “Bearbeiter” der übermäßige Sextakkord nicht geläufig ist und ihm nur als Rätsel und Fehler begegnet. Deshalb glaubt er, diesen Akkord reparieren zu müssen, indem dort vor E-Dur gefälligst auch dessen Dominante H7 zu erscheinen hat.

Ziemlich gruselig... aber leider wahr. Als mir zwei Studenten diese Stelle aus dieser “Neuausgabe” zum ersten Mal vorspielten, war ich frustriert mit ihnen, weil sie wohl so gar nicht genau hinschauen. Dabei war es überhaupt nicht ihr Fehler – es war einfach nur schwer vorstellbar. Deshalb: Es gibt dieses großartige Projekt, www.imslp.org, für copyrightfreie Noten (Todesdatum des*der Komponist*in liegt mindestens 70 Jahre zurück) – dort kann man bei solchen Stücken immerhin in die alten Drucke schauen. Ein erster Schritt!

Weil du es eingangs erwähnt hast: Komponierst du heute noch und inwiefern hilft dir deine Expertise im Arrangieren dabei?

Ja, ich komponiere weiter, habe aber über die Jahre ziemlich wenig für Gitarre geschrieben, sondern hauptsächlich Kammermusik für andere instrumentale Kombinationen. Bis vor Kurzem: Meine letzte Komposition ist tatsächlich ein, auch noch sehr großes, Stück für Gitarre geworden. Ein ca. halbstündiges Werk namens Rhapsody Sonata. Mehrteilig, bei dem aber alles attacca ineinander übergeht. Es wird mich noch eine Weile beschäftigen, das alles zu üben und aufzunehmen. Es hat einen sehr persönlichen emotionalen Hintergrund für mich und ist, für mich bisher eher ungewöhnlich, weitgehend tonal geworden.

Was den zweiten Teil der Frage betrifft: Ich sehe eher, dass das Komponieren das Arrangieren befruchtet als umgekehrt. Obwohl das Arrangieren eines auskomponierten Stückes durch das Eintauchen in die Welt dieses Stückes dann natürlich auch “kompositorische” Fragestellungen und Gedanken auslöst. Alles ist ja miteinander verbunden...

Welche Musik, die du neu entdeckt hast, hat dich zuletzt am meisten bewegt? (Klassik, Rock, Jazz, whatever comes to your mind…)

Schostakowitsch: Streichquartette, besonders die Elegien…

Turkish Psychedelic Rock…

(R.) Strauss: Metamorphosen

Brad Mehldau: besonders seine Solo Song Arrangements (z. B. Beatles)

Barbara Strozzi…

Frederic Rzewski: The People United Will Never Be Defeated! (36 Variationen über ein chilenisches Revolutionslied – ein Riesenstück, ein Art moderne Goldberg-Variationen…)

Wenn du einen Satz auf ein Plakat drucken lassen könntest, das in riesiger Auflage bei allen (klassischen) Musik-Festivals der Welt hängen würde. Welcher wäre das? 

Danke an unseren Hauptsponsor:

GISPIRIN

DIE einzige Hilfe für alle, die unter enharmonischer Verwechslung leiden!

NOTEN
Johann Sebastian Bach / Daniel Göritz - Sarabande aus der Partita für Solo-Flöte BWV 1013

Weil im Interview die Partita für Solo-Flöte BWV1013 zur Sprache kam, fanden wir es sinnvoll, Daniels Bearbeitung der Sarabande daraus in der Notenausgabe zu featuren. Hier können alle Interessierten noch tiefer in die Materie des Arrangierens einsteigen. Wir können euch nur empfehlen, die Originalstimme danebenzulegen, um Stück für Stück die musikalischen Lösungen nachzuvollziehen und sich davon für eigene Bearbeitungen inspirieren zu lassen. Danke fürs Bereitstellen an dieser Stelle.

Die gesamte Bearbeitung der Partita erscheint übrigens demnächst beim Verlag Neue Musik Berlin. Wer also Appetit auf mehr davon bekommen hat – lasst es euch schmecken :)

GITARRE UND…
Duo Udite spielt Im Treibhaus von Richard Wagner

Bei Richard Wagner denkt man zuerst an Siegfried, Tristan, Isolde, Walküren und Bayreuth. Man denkt vielleicht auch an fetten Sound, an Epos, denkt sicher auch an umstrittene Verstrickungen, Vereinnahmung. Man denkt an fortwährende Diskussionen über die Trennung von Werk und Urheber und an vieles mehr. Nicht aber an Gitarre. 

Die Wesendonck-Lieder sind Ergebnis einer unerfüllten Liebessehnsucht Wagners zu Mathilde Wesendonck. Diese Erfahrung findet sich auch in der Oper Tristan und Isolde. Das Lied Im Treibhaus hat Wagner selbst als Studie zur Oper bezeichnet. Der Anfang des Liedes  taucht sogar auch in weiter ausgearbeiteter Form als Vorspiel im 3. Akt der Oper auf. 

Was die Gitarre hier kann, ist, dem Stück eine Stufe an Intimität zu geben, die auch in der halb szenischen Inszenierung des Videos seine wunderschöne Entsprechung findet! 

“Hochgewölbte Blätterkronen,
Baldachine von Smaragd:
Kinder ihr aus fernen Zonen,
Saget mir warum ihr klagt?”

OUTRO

Wir hoffen, ihr hattet Freude beim Lesen. Habt den Stift gespitzt, das Notenpapier vor euch oder das Notenprogramm eures Vertrauens geöffnet. 

Im Rahmen eines Newsletters war das heute, wie auch schon bei der letzten Ausgabe, sicher ein Deep Dive. Wir wollten aber nicht zu stark verkürzen und finden das Thema auch selbst einfach zu spannend. Die nächsten Ausgaben werden wieder etwas komprimierter. Versprochen. Wir machen jetzt erstmal 4 Wochen Sommerpause mit dem Newsletter. Bis dahin habt ihr sicher genug Material. 

Bleibt uns treu und genießt die nächsten 4 Wochen des Sommers.

Feedback, Vorschläge, Kritik wie immer gerne als Antwort auf diese E-Mail.

Wir hören bzw. lesen uns Anfang September!

Beste Grüße
Stefan & Willi

New Classical Guitar ist ein Newsletter von Willi Leinen und Stefan Degel von TMBM. Unsere Musik und weitere Infos zu unserem Werdegang findest du unter t-m-b-m.com

Auf Spotify kuratieren wir eine Playlist mit unseren Lieblingsstücken. Ihr könnt unserer New Classical Guitar Playlist unter https://open.spotify.com/playlist/3ZwxJRAsW9Zs2JiS2eLy6a?si=9b2a737f01c043a4 folgen und uns gern neue Empfehlungen schicken.