Ausgabe 2

In dieser Ausgabe: Flamenco von Noa Drezner, Noten von Eduardo Rodriguez, das Album der Ausgabe von Martin Steuber, Know How mit Alexander Liebermann und Musik von den Mirror Strings.

Hey!

Willkommen zur zweiten Ausgabe des New Classical Guitar Newsletters. Wir hoffen sehr, dass euch die erste Ausgabe gefallen hat, und danken euch herzlich für die zahlreichen Feedbacks.

Was ist Virtuosität? Diese Frage zieht sich durch die heutige Ausgabe. Wir sind froh, euch mit Noa Drezner einen besonderen YouTube-Fund der Woche zeigen zu können. Wunderbarer Flamenco aus Israel. Außerdem könnt ihr in der Rubrik Noten den zweiten Satz aus “Dedications” von Eduardo Rodriguez herunterladen, den uns Eduardo exklusiv für den Newsletter zur Verfügung gestellt hat (DANKE!). 

Das Herzstück der heutigen Ausgabe ist unser "Know-how"-Kurzinterview mit dem Komponisten Alexander Liebermann, in dem er sich sehr pointiert unseren Fragen zum Thema “Komponieren” stellt und möglicherweise ja die eine oder den anderen für sein*ihr erstes oder nächstes Stück inspiriert . Wild und neu wird es beim Album der Woche. Es heißt  “...And I play guitar”. Grandioser Titel auf der Suche nach der Frage: Was bedeutet Virtuosität heute?

Das Finale besteht heute aus Cello und Gitarre und Gitarre und Cello: Mirror Strings. Super spannendes Ensemble. 

Viel Spaß beim Lesen!
Stefan & Willi

YOUTUBE-FUND DER AUSGABE
Female Flamenco mit Noa Drezner

Eine Frau hinter einer Flamencogitarre ist ja mal eine gewisse Rarität. Da sind wir schon vor Drücken des Play-Buttons on fire! 

Und wow, die ersten Töne sind direkt eine Ansage, in welche Richtung die kurze aber zauberhafte Reise geht. Noa Drezner hat uns direkt auf ihrer Seite. Fesselnd und raumschaffend zugleich, vermittelt die Gitarristin die Essenz des Flamenco – einer stark von männlichen Akteuren dominierten Stilistik. Auf ihrer Homepage schreibt sie, dass ihr sowohl ihre israelischen Wurzeln als auch Reisen durch die Welt mit längeren Aufenthalten in Indien und Spanien sinngemäß einen freieren Umgang mit Musik ermöglicht und schließlich zur Findung der eigenen Handschrift und Klangästhetik verholfen haben. Das trifft den Nagel auf den Kopf! 

Wir wünschen uns mehr weibliche Energie und Einfühlsamkeit im Flamencogitarrenspiel. Das macht diese Musik auf ihre Art irgendwie zugänglicher.

Bei kommenden Flamenco-Listening-Sessions steht Noa definitiv oben auf der Liste! 

Und btw ist das Video an sich mit seinem leicht verwackelten One-Shot-Charakter lebendig gehalten und dadurch irgendwie ansprechend. Wahrscheinlich, weil es nicht so glattgebügelt daherkommt wie so viele Studiosessionvideos. Obendrauf super Sound! Enjoy!

Mehr zu Noa Drezner findest du hier: 

NOTEN
Eduardo Rodriguez – Explorations (Zweites Stück aus “Dedications”)

In dieser Ausgabe möchten wir euch mit einem Stück des mexikanischen Komponisten Eduardo “Lalo” Rodriguez die nächsten Übe-Sessions versüßen. 

“Explorations” ist ein klangvolles, schwebendes Charakterstück. Es zaubert dem*der Interpret*in jedoch sofort ein zufriedenes Lächeln ins Gesicht – wie bei einem kleinen Kind, wenn es beginnt, die Welt zu erkunden. Lalo hat uns dieses Stück exklusiv für den Newsletter zur Verfügung gestellt. Es ist Teil einer Sammlung von 5 Kompositionen, die er unter dem Titel “Dedications” vereint. Wir dürfen auf die Veröffentlichung dieser Reihe gespannt sein, in der er Inspirationen aus seinem direkten Umfeld verarbeitet. Für ihn ist Musik ein anhaltendes Suchen und die Bewahrung der gemachten Erfahrungen auf ebendieser Suche ”We have to keep searching, and to keep the expression of this search. That’s what music is to me.”

Viel Freude beim Suchen, Abspeichern und Finden! Mehr zu Eduardo via eduardorodriguezmusic.com

ALBUM DER AUSGABE
"...And I Play Guitar" von Martin Steuber

Auf seinem neuen Album mit dem – angesichts der gitarristischen Schwerstarbeit – sehr bescheiden anmutenden Titel “...and I Play Guitar” interpretiert Martin Steuber unter anderem eine neue musikalische Beschäftigung mit den Caprichos des bildenden Künstlers Goya, komponiert von Michael Quell. Das feine leise Schwingen ineinander klingender Dissonanzen und das abrupte perkussive oder dynamische Unterbrechen lässt uns auf jeden Fall schnell einen Bezug zu Goyas Radierungen herstellen.

Darüber hinaus finden wir unter anderem die Interpretation der Sequenza 11 von Berio und das zweisätzige Stück “Diffuse Planes” in reiner septimaler Stimmung (7-limit tuning, google mal) echt spannend. Alles toll gespielt und sehr virtuos.

Ach, und da wäre noch eine Frage: Sinustöne, eine mit Bogen gestrichene Gitarre und der Titel “Clair de Lune” in einem Kontext? Wenn du es dir nicht vorstellen kannst, check das Album aus und vielleicht kannst du auch Martin Steubers Ausgangsfrage für dich selbst beantworten: Was bedeutet Virtuosität heute? 

Was hat er dabei noch gefunden? Er sagt:

“Gefunden habe ich [...] erneut meine Liebe zur Gitarre.”

Reinhören und herausfordern lassen!

KNOW-HOW 
5 Fragen an Alexander Liebermann über das Komponieren

1. "Three Miniatures" war dein erstes Stück für Solo-Gitarre. Da du selbst nicht Gitarre spielst: Was sind deiner Meinung nach die größten Herausforderungen beim Komponieren für das Instrument?

Also, ganz so ist es nicht. Ich bin kein professioneller Gitarrist, aber ich spiele ein wenig. Ich kann viele grundlegende Akkorde spielen und ein paar Songs begleiten und so weiter. Ich denke, es ist immer wichtig, einige grundlegende technische Aspekte eines Instruments zu verstehen, bevor man dafür komponiert. Oft ist man sich nicht der technischen Herausforderungen eines Instruments bewusst. Das ist bei einigen Instrumenten, wie dem Sousaphon zum Beispiel, natürlich schwieriger als bei der Gitarre 😊. In solchen Fällen sollte man sich gründlich über das Instrument informieren und herausfinden, was möglich ist.

2. Für die Leser*innen, die gerne einmal selbst was schreiben wollen. Ein leeres Blatt Notenpapier. Wie beginne ich eine Komposition? Welchen Tipp gibst du deinen Student*innen? 

Ohne Zweifel sind der Beginn und das Ende die herausforderndsten Momente im kreativen Prozess. Es ist paradoxerweise hilfreich, sich selbst Limitierungen zu setzen, wie der Regisseur Orson Welles das treffend bemerkte: "Der Feind der Kunst ist die Abwesenheit von Limitierungen" (Original: „The absence of limitations is the enemy of art“). Je mehr Limitierungen man sich auferlegt, desto kreativer wird man. Wenn ich zum Beispiel sage, du sollst mir bis morgen irgendein Stück für die Gitarre komponieren, bist du möglicherweise überfordert. Wenn ich dir jedoch die Aufgabe stelle, bis morgen ein zweiminütiges Gitarrenstück im romantischen Stil zu schreiben, das auf dem Thema von Romeo und Julia basiert, hast du eine klare Richtung und kannst den kreativen Prozess leichter angehen. 

3. Welche Kompositionen für andere Instrumente sollte man zur Inspiration unbedingt hören? 

Es gibt zu viel Musik, die ich hier auflisten könnte, aber aktuell beschäftige ich mich mit Étienne Perruchon‘s "5 Danses Dogoriennes" für Cello und Timpani sowie den Beatles-Arrangements von Luciano Berio. Diese Werke sind echte Schätze.

4. Wie finde ich meinen eigenen Stil beim Komponieren?

Mein Lehrer Steven Stucky, ein Schüler von Lutosławski und Pulitzer-Preisträger, hat mal gesagt, dass man sein ganzes Leben lang nach seinem "Stil" sucht. Er meinte, dass man einfach schreiben sollte, und der "Stil" würde sich von selbst entwickeln. Dies erscheint heutzutage besonders herausfordernd, da es eine immense Vielfalt an Stilrichtungen und Genres gibt und das Internet eine Hypererreichbarkeit bietet. Aber egal ob das Geschriebene nach einem*einer anderen Komponist*in klingt oder einem bestimmten Stil zugeordnet werden kann, es wird nie genauso sein, wie du es verfasst hast. 

Ich habe eine besondere Bewunderung für den Komponisten Erwin Schulhoff, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Zeit, in der verschiedene Genres zu blühen begannen, mutig verschiedene Stile und Genres miteinander kombinierte. Er begann im Stil der Postromantischen Musik und der Zweiten Wiener Schule, integrierte aber dann Jazz-Elemente und wurde danach Neoklassizist. In seiner reifen Schaffensperiode entwickelte sich sein Stil schließlich zu einer Art melting pot, in dem eine idiosynkratische und unverkennbare Stimme zum Ausdruck kommt.

Ich habe zu diesem Thema einen Artikel verfasst, um junge Komponist*innen zu motivieren. 

5. Was inspiriert dich außer musikalisch für deine Musik?

Ich bin von Natur aus äußerst neugierig und finde eigentlich überall Inspiration, von der Astronomie bis hin zu Vogelgesängen. Auch Philosophie und verschiedene wissenschaftliche Themen faszinieren mich. In der Vergangenheit habe ich beispielsweise zahlreiche Werke komponiert, die von Vogelgesängen inspiriert wurden. Darüber hinaus hatte ich die Gelegenheit, mit Wissenschaftler*innen zusammenzuarbeiten, um Stücke zu schaffen, die sich mit Themen wie Placozoa (den einfachsten lebenden Tieren auf der Welt), dem Anthropozän und dem Klimawandel auseinandersetzen.

Alexander Liebermann ist ein gefragter Komponist. Er ist Teil der Abteilung Theorie und Gehörbildung der renommierten Juilliard School in New York. Seine Arrangements von Tierstimmen gingen unlängst viral und führten unter anderem zu einem Feature in der National Geographic. 

Website: alexanderliebermann.com
Alexander Liebermann auf Insta: instagram.com/lieberliner

GITARRE UND…
MIRROR STRINGS: A New Sound – Edvard Grieg: Holberg Suite, Op. 40

Eine Besetzung, die uns nicht allzu oft über den Weg läuft: “Mirror Strings” erzeugen mit zwei Gitarren und zwei Celli ein kraftvolles und dennoch transparentes Klangbild. Die Holberg Suite, Op. 40 wurde von Edvard Grieg für Klavier komponiert und von ihm selbst für Streichorchester arrangiert. Wir finden, dass in dieser Version das Beste aus beiden Klangwelten in einem homogen klingenden Quartett vereint wird. Ein Genuss für die Ohren und mit einer für den “Klassikhabitus” ungewöhnlichen Location und einer kleinen Tanzeinlage on top gibt’s auch noch was für die Augen – erfrischend, facettenreich, gelungen.

Mehr zum Projekt unter mirrorstrings.com

OUTRO

Wir hoffen, das Lesen des Newsletters konnte dich kurz aus dem Alltag entführen und dazu inspirieren, das ein oder andere auszuchecken. Falls du Anregungen hast, gerne her damit. Am einfachsten geht das als Mail-Antwort auf diesen Newsletter. In der nächsten Ausgabe haben wir unter anderem ein sehr schönes ruhiges Album am Start und ein Gespräch mit dem (klassischen) Schlagzeuger und Produzenten Ingo Reddemann über Rhythmus und Timing.

Es grüßen,
Stefan & Willi

New Classical Guitar ist ein Newsletter von Willi Leinen und Stefan Degel von TMBM. Unsere Musik und weitere Infos zu unserem Werdegang findest du unter t-m-b-m.com

Auf Spotify kuratieren wir eine Playlist mit unseren Lieblingsstücken. Du kannst unserer New Classical Guitar Playlist unter https://open.spotify.com/playlist/3ZwxJRAsW9Zs2JiS2eLy6a?si=9b2a737f01c043a4 folgen und uns gern neue Empfehlungen schicken.