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Ausgabe 23
In dieser Ausgabe: Andrew York im Youtube-Fund der Woche, Album der Woche von Eva Beneke, Noten für die Morgenroutine mit Leon Albert, Know-How mit Eva Beneke und die Feel-good-Melodie der Woche mit Flora Falls
Hey!
Der Traum eines anderen. Aber nicht der Traum irgendeines anderen. Andrew York huldigt Ludwig van Beethoven. Unser YouTube-Fundstück.
Die Erneuerung des Kanons der klassischen Gitarre, darum geht es Eva Beneke mit et aliae im Album der Woche. Diesmal als Vorankündigung, denn das Album wird erst nächste Woche in die audiophile Streaming-Umlaufbahn gesendet. Zu diesem Anlass und aus Gründen des Beglückwünschens unsererseits gibt es hier auch nochmal das Interview mit Eva aus Ausgabe 9.
Leon Albert zeigt in unserer Etüden-Rubrik mal wieder, wie wichtig es ist, Routinen zu zelebrieren. Für ihn sind weder vier über drei noch vier unter drei ein Problem. Seine Miniaturen sind nicht weniger geschmackvoll als ein gut gerösteter Espresso und sein Humor ist präziser getaktet als ein Schweizer Uhrwerk.
Und wenn das nicht Feel-Good-Vibes genug sind, lasst euch von Flora Falls dahin mitnehmen, wo das Gras hoch wächst, denn das Gras ist immer grüner in der zweiten Hälfte des April.
Jetzt aber viel Freude beim Lesen!
Es grüßen,
Stefan und Willi
YOUTUBE-FUND DER WOCHE
mit Andrew York
“Ludwigs Dream” von Andrew York ist eine wunderschön weiche Reminiszenz an Ludwig van Beethovens Thema im Allegretto der 7. Sinfonie. Andrew nimmt die eindringliche Stimmung auf, wie ein Gruß an eine andere Zeit. Vier Minuten und zehn Sekunden. Ohne überhöhen zu wollen, drängt sich ein Eindruck von Eleganz auf, zumindest aber ein ganz im Hier und Jetzt Verhaftet-Sein.
Der zweite Satz der 7. Sinfonie von Beethoven: ruhig und feierlich im Gestus, sehr eindringlich – fast wie ein langsamer, trauriger Marsch. Das Thema in seiner Schlichtheit magisch, nach und nach Spannung aufbauend. Unmöglich, sich zu entziehen, und auch ein bisschen unmöglich, das in Worte zu packen. Beethoven hören. „Ludwigs Dream“ anschauen. Können wir nur empfehlen.
ALBUM DER WOCHE
mit Eva Beneke

Der Kanon der klassischen Gitarrenwelt ist IHR Thema.
In Ausgabe 9 haben wir ein Interview mit Eva Beneke über genau dieses Thema geführt, was uns nachhaltig für die Rolle der Frau in der klassischen Musik sensibilisiert hat. Wir freuen uns daher umso mehr, euch Evas neueste EP in dieser Ausgabe ans Herz legen zu können.
Et aliae schenkt nämlich „ein paar Anderen“ Aufmerksamkeit, die eben nicht im klassischen Kanon berücksichtigt werden. Sie featurt drei Komponistinnen aus drei verschiedenen zeitlichen, geographischen und somit auch (sozial-)politischen Hintergründen.
Eva Beneke schreibt zu den Komponistinnen: Petra Szászí, geboren 1997, eine junge Komponistin von heute. Sofia Gubaidulina, eine Vertreterin des „langen“ 20. Jahrhunderts, die am 13. März 2025 im Alter von 93 Jahren verstorben ist – ihre Lebensgeschichte geprägt von Migration und Exil aus der Sowjetunion. Und Germaine Tailleferre, die einzige Frau in der „Group des Six“ um 1918 – einer Zeit, in der Frauen noch die Erlaubnis von Vater und Ehemann einholen mussten, um Komponistin zu werden.
Sofia Gubaidulinas “Serenade” hat uns schwer in ihren Bann gezogen. Diese Komposition zeigt, dass es nicht viel braucht, um Tiefe zu erzeugen, starke Kontraste abzubilden und doch eine klare, schlüssige musikalische Sprache zu sprechen. Eine Sprache, die sofort ein Bild der Frau zeichnet, die hinter der Komposition steht.
Danke Eva, dass du diesen Dialog möglich machst und deinen Part als Dolmetscherin besser nicht ausführen könntest. Die feine, durchdachte und emotionsreiche Interpretation der Stücke bietet einen wunderbaren Einblick in die Welt “der Anderen”, die es für uns alle zu erkunden gilt!
Eva Benekes Frage “ Könnte diese „andere“ Musik – leise und doch wütend, facettenreich und doch einfach, genreübergreifend und doch von Solist*innen gewählt – ein Weg sein, den Kanon zu erneuern?” sei von unserer Seite so zu beantworten: JA!
Wir wünschen einen fröhlichen Release-Tag am 21. April.
MORGEN-ROUTINE
Auf einen Kaffee mit Leon Albert

Hi Leon, was ist die Routine für diese Woche?
Aktuell beschäftige ich mich weiterhin mit Unabhängigkeit, diesmal gezielt in Bezug auf Über- und Unterlagerungen. Wer vier über drei kann (vgl. letzte Ausgabe), muss auch vier unter drei können. :)
KNOW-HOW
mit Eva Beneke
(Interview aus Ausgabe 9/2024)

© Peter Adamik
Im Kanon des klassischen Gitarrenrepertoires ist die Bezeichnung “unterrepräsentiert” für Komponistinnen noch eine nette Umschreibung! Wie kommt das?
Tja, wir können uns vor allem beim 19. Jahrhundert bedanken, wo das Bürgertum mit seinen patriarchalen Strukturen Frauen einen sehr beschränkten Platz in der Gesellschaft zuwies: nämlich Kinder, Küche, Kirche.
Viele Strukturen im klassischen Musikbetrieb sind in dieser Zeit entstanden und wirken bis in unsere Zeit nach. Sämtliche Bereiche der Musikausübung, von Orchesterbetrieb und Hochschullehre bis hin zur Musikwissenschaft und Musikkritik, waren männlich dominiert, und damit auch der Werkekanon. Es hat sich vieles geändert, aber wer sich heute ein typisches Examensprogramm anschaut, wird auch dort nur sporadisch ein Werk einer Komponistin entdecken.
Dann gab es natürlich auch immer einflussreiche Künstler*innen-Persönlichkeiten wie Andrés Segovia, die den Kanon für unser Instrument maßgeblich mitbestimmt haben. Dass Segovia Werke ablehnte, die nicht seinem Geschmack entsprachen, ist ja kein Geheimnis – und das waren bei weitem nicht nur Werke von Frauen. Als Beispiel fällt mir da Teresa de Rogatis ein, die mit ihren Stücken eine Brücke zwischen Impressionismus und Neoklassik schlägt. Vielleicht hätte sie viel mehr komponiert, wenn Segovia sie wahrgenommen hätte?
(Link: Teresa de Rogatis: Sonatina, 1. Adagio)
https://youtu.be/zr8sg0TZ0Eg?si=1f2j_nX06zufMgWS
Das Thema hat viele Dimensionen – sicher ist die Gitarre da nur ein kleiner Bereich, aber für uns so wichtig! Wer sich in der Tiefe einmal selbst informieren möchte, dem empfehle ich Eva Riegers Buch mit dem abschreckend herrlichen Titel Frau, Musik & Männerherrschaft.
Wann hast du dich des Themas angenommen? Kannst du dich an den Initialpunkt erinnern? Und was ist seitdem passiert?
Das war etwa 2020, während der Pandemie. Vermehrt machte ich mir zu solchen Themen Gedanken – es gab ja wenig Ablenkung. Ich verschlang einiges an Büchern, die mich bewegt haben, z. B. Invisible Women von Caroline Criado Perez – eine Empfehlung meiner argentinischen Kollegin Carolina Folmer. Aber der Blick in die Gitarrenszene und auf die Programme in Konzerten, Wettbewerben und bei Festivals hat mir nicht mehr gefallen.
Irgendwann stand dann die Frage im Raum: Warum spiele ich eigentlich so gut wie nie ein Werk von einer Frau? Und was bedeutet das für mich, als Musikerin?
Ich habe dann recherchiert, im Austausch mit anderen Gitarristinnen wie Heike Matthiesen, die ja eine wahre Enzyklopädie für Komponistinnen war, mit Jiji Kim und Kolleginnen vom Netzwerk Gitarre Berlin (Link: https://www.netzwerkgitarreberlin.de). Diese Bildungslücke begann sich langsam für mich selbst zu schließen – und tut es immer noch.
Eigene Arrangements, Kammermusik, Solostücke, Konzerte – es gibt eine ganze Welt zu entdecken! Zu keinem Zeitpunkt sollte es darum gehen, unser geliebtes “Standardrepertoire” zu verdrängen oder gar zu ersetzen – das ist ein oft gehörtes Vorurteil.
Für mich bedeutet es: weg vom eurozentrischen, männlich dominierten Kanon hin zu einer weiter gefassten Vorstellung von klassischer Musik, die, um es mal polemisch zu formulieren, nicht ausschließlich Werke “weißer Männer” als Standard akzeptiert.
Welche 3 Komponistinnen in der Musikgeschichte findest du besonders spannend und welche drei aktuellen Komponistinnen begeistern dich gerade?
Da gibt es so viele! Germaine Tailleferre (Link: Guitare https://youtu.be/QUV_gmpO5f0?si=L7hVetjxjkHlDUxy), die sich gegen den Willen des Vaters und zweier (!) Ehemänner für das Komponieren entschied, teilweise unterstützt von ihrem Lehrer Maurice Ravel. Oder Elisabeth Jacquet de la Guerre – 20 Jahre vor J.S. Bach in Paris geboren, war sie ein echter barocker Superstar und Hofkomponistin für Louis XIV! Ich habe kürzlich eine Cembalosuite von ihr für die Gitarre transkribiert.
Natürlich, die Mystikerin des Spätmittelalters – allgemein bekannt durch die Kräuterkunde und Rezepte. Sie war aber auch Dichterin, Komponistin und Universalgelehrte. Von ihr stammt das einzige überlieferte mittelalterliche Musikdrama (Link: https://youtu.be/f1sJ91rS0o0?si=UM1pz-CsdcEnTMYO), sowohl Text als auch die Musik.
Von Hildegard lassen sich bis heute Komponist*innen inspirieren, so beispielsweise Sofia Gubaidulina, die 1994 ein Stück für Solo-Alt namens Aus den Visionen der Hildegard von Bingen schrieb. Serenade & Toccata werden einige sicher kennen – zwei wunderbare, bildreiche und ausdrucksstarke Solostücke. Auch sehr lohnenswert ist ihre Kammermusik mit zwei oder drei Gitarren und Streichern – da gibt es abendfüllendes Repertoire für uns Gitarristinnen zu entdecken.
Aktuell finde ich die junge ungarische Komponistin Petra Szászí bemerkenswert. Ich habe ihr Solostück Hommage à Charles Bukowski (Link: http://www.evabeneke.com/new-album-page ) gerade für ein neues Album aufgenommen – es gibt aber auch ein sehr cooles, rhythmisches Gitarrenquartett, Dyslexia, und ein neues Stück für Cello und Gitarre, welches letztes Jahr von Jesse Flowers und Ildikó Szabó uraufgeführt wurde.
Sonst lohnt es sich natürlich immer, auch ausserhalb der Gitarrenwelt zu forschen – die koreanische Komponistin Unsuk Chin (Link: https://www.nzz.ch/feuilleton/wunderlandmusik-unsuk-chin-erhaelt-ernst-von-siemens-musikpreis-ld.1830886 ) beispielsweise lebt seit vielen Jahren in Berlin und schreibt wahnsinnig tolle Musik, komplex, hochvirtuos, z. B. das Cello-Konzert, oder die als nahezu unspielbar geltenden Klavieretüden – jetzt gehören sie in Klavierwettbewerben bereits zum Repertoire. Als Studentin durfte ich sie einmal kennenlernen. Ich wirkte in einem Orchesterprojekt mit und leider, leider war Mirroirs des temps das einzige Stück aus der Feder einer Frau zu meinen Studienzeiten – immerhin mit Gitarre im Orchester!
Wie glaubst (und hoffst) du wird sich das Thema in 10 Jahren entwickelt haben? Was braucht es, um dem Ungleichgewicht entgegenzuwirken?
Hoffentlich brauchen wir irgendwann diese Diskussionen gar nicht mehr, und können uns auf das Wesentliche – nämlich gute Musik – konzentrieren. Nun ist es aber so, dass vielerlei Faktoren dazu beitragen, ob und wie oft etwas aufgeführt wird. Nicht zuletzt obliegt es Veranstalter*innen und dem Geschmack des Publikums. Aber auch Marketing, Agenturen, die Räder der Musikindustrie und letztlich wir Interpret*innen. Da sind noch einige Schranken abzubauen. Bekanntlich wird Neues immer mit Widerstand begrüßt.
Vorstellen kann ich mir: eine Art “Quote” für Pflichtstücke bei Wettbewerben, Aufnahmeprüfungen, Examensprogrammen – das klingt vielleicht etwas brachial, ist aber in der Kunst und Literatur teils schon der Fall. Im nächsten Semester arbeite ich beispielsweise in einer Gruppe, die für Norwegen einen vielfältigen Katalog für das Aufnahmeprüfungsrepertoire der Musikhochschulen erstellen wird.
Zu dem Thema kann ich einen klugen und wichtigen Artikel von Jiji empfehlen, der mich damals sehr bewegt hat: “How audition requirements exclude” (2020) (Link: https://newmusicusa.org/nmbx/how-audition-requirements-exclude/).
Kannst du etwas zu deinem Forschungsprojekt erzählen?
Sehr gerne! Gemeinsam mit zwei fantastischen Kolleginnen haben wir an der Norwegischen Musikhochschule in Oslo ein Forschungsteam zum Thema Challenging Musical Canons (Link: https://nmh.no/en/research/projects/challenging-musical-canons).
Die beiden kommen aus der Musikpädagogik bzw. der Musikwissenschaft, ich repräsentiere die musikalische Praxis und Lehre sowie künstlerische Forschung. Es geht darum, gängige Standards und Konventionen wissenschaftlich zu hinterfragen – z. B. die Behauptung “Frauen hätten keine relevanten Werke zur Musikgeschichte beigetragen” oder “es gab nunmal in der Vergangenheit nicht so viele gute Komponistinnen”.
Aber auch Fragen wie: Wie kommt ein Werk in den Kanon? Wer entscheidet das?
Was setzt sich durch, und warum? Es ist ja auch so, dass Musikrezension und Musikkritik die längste Zeit fast ausschließlich von Männern betrieben wurden, ebenso die Verlage. Das ist alles wirklich unglaublich spannend. Dazu wird es dann Artikel geben, Präsentationen, Gesprächskonzerte und vieles mehr.
Wie sensibilisierst und begeisterst du junge Gitarrist*innen (deine Studierenden) für das Thema?
Meiner eigenen musikalischen Suche entsprangen ganz automatisch einige Projekte mit den Studierenden – 2021 hatten wir eine Projektwoche zum Thema “Komponistinnen”. Und im Herbst 2023 – darauf bin ich schon ein bisschen stolz – hat dann die gesamte Musikhochschule in Oslo eine Woche mit Kammermusik von Frauen auf die Beine gestellt. Das ging quer durch alle Instrumente und Abteilungen: Jazz, Klassik und norwegische Volksmusik. Ich habe so viel neues Repertoire kennengelernt!
Es gab mehrere Konzerte täglich, Uraufführungen, ein studentisches Orchesterprojekt: Die haben ganz ohne Dirigentin gearbeitet (noch so eine traditionelle Männerposition!) und ein Werk einer 19-jährigen Studentin aufgeführt. Dazu Diskussionen und Gespräche – die Zeit ist einfach reif, Studierende wollen diese Themen aktiv bearbeiten, und zwar jetzt!
Im Einzelunterricht ermutige ich durchaus, Werke von Frauen zu spielen oder zu arrangieren. Im kommenden Herbst wird es eine “Stimme & Gitarre” Projektwoche geben, wo wir das Basso Continuo eben mal zu Arien von Barbara Strozzi (Link: https://youtu.be/XWXAUnXQlhY?si=YEPl5iEsPnHr2e2K ) oder Claudia Sessa aussetzen.
Generell achte ich viel mehr darauf, auch mal eine Etüde von einer Komponistin vorzuschlagen oder bei Audiobeispielen oder auf YouTube Interpretinnen und Interpreten gleichermaßen rauszusuchen.
Wenn du einen Satz auf ein Plakat drucken lassen könntest, das in riesiger Auflage bei allen (klassischen) Musik-Festivals der Welt hängen würde. Welcher wäre das?
“Today is the future!”
FEEL-GOOD-MELODIE DER WOCHE
mit Flora Falls
Eine beschwingte und positive Melodie! Da hat man gleich Lust, morgens aus dem Bett zu springen. Oder mitten am Tag mal in den Himmel schauen. Stress? Bad News? Kurz die Kopfhörer auf, die Haare in den Wind und aufgesprungen auf den Zug der guten Laune!
Unsere Feel-good-Melodie der Woche!
OUTRO
Vielen Dank fürs Lesen! Checkt unsere Playlist zum Newsletter. Seid gut zueinander.
Wir hören und lesen uns!
Stefan & Willi
New Classical Guitar ist ein Newsletter von Willi Leinen und Stefan Degel von TMBM. Unsere Musik und weitere Infos zu unserem Werdegang findet ihr unter t-m-b-m.com
Auf Spotify kuratieren wir eine Playlist mit unseren Lieblingsstücken. Ihr könnt unserer New Classical Guitar Playlist unter https://open.spotify.com/playlist/3ZwxJRAsW9Zs2JiS2eLy6a?si=9b2a737f01c043a4 folgen und uns gern neue Empfehlungen schicken.